Gerlinger Lyrikpreis 2022 : Vorhang auf für die Lyrik
Am Dienstag, dem 11. Oktober 22, überreichte die Stiftungsgründerin Petra Schmidt-Hieber in der gut besuchten Stadtbücherei die beiden Lyrikpreise und betonte, wie glücklich sie sei, zwei so „fluoreszierenden Bojen, ja Neonstangen im weiten Meer der Kunst“ diese Auszeichnung überreichen zu können und zu dürfen..
Zuvor hob der Bürgermeister der Stadt Gerlingen, Dirk Oestringer , hervor, dass es eine Ehre für die Stadt sei , als Namensgeberin für diesen Preis dazustehen . Und er sich freue, dass der Gerlinger
Lyrikpreis seit 2016 bereits einen überregionalen Bekanntheitswert erreicht habe. Er fügte noch an, dass durch diesen Preis der Lyrik in der Literatur eine Stimme verliehen werde.
Er dankte Petra Schmidt-Hieber für die Auslobung des Preises sowie der Leiterin der Stadtbücherei und ihrem Team für die gute Organisation in der Bücherei.
Die Leiterin der Stadtbücherei, Annette Maucher, erwähnte in ihrem Grußwort, dass der Gerlinger Lyrikpreis ein weiteres Glied in der Angebotspalette der Bücherei darstelle und heutzutage eine Bücherei breit aufgestellt sein müsse, um die verschiedensten Interessen und Bedürfnisse ihrer Leser*innen befriedigen zu können.
Markus Manfred Jung,geboren am 5. Oktober 1954 in Zell im Wiesental, Sohn des alemannischen Mundartdichters Gerhard Jung und seiner Frau Klara, geb. Wuchner, aufgewachsen in Lörrach, lebt mit seiner Frau, der Malerin Bettina Bohn, in Hohenegg, Kleines Wiesental. Studium von Germanistik, Skandinavistik, Philosophie und Sport in Freiburg im Breisgau und Oslo, Norwegen. Gymnasiallehrer (bis 2018) und Schriftsteller.
Einige Auszeichnungen und Preise, u.a. "Dr. Alfred Gruber-Preis" (1. Förderpreis) beim Wettbewerb Lyrikpreis von Meran, Italien, 1998; "Lucian-Blaga-Poesiepreis", Cluj Napoca/Klausenburg, Rumänien, 2001; "Landespreis für literarisch ambitionierte Kleinverlage 2006" für den Drey-Verlag; "Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik 2007" für IKARUS (mit Uli Führe).
Die letzten beiden Lyrikveröffentlichungen waren: verfranslet diini flügel, Alemannische Gedichte, Drey-Verlag, Gutach, 2008 und Schluchten von Licht, mit Bildern von Bettina Bohn, Alemannische und hochdeutsche Gedichte, ebd. 2015
Die Jury des Gerlinger Lyrikpreises 2022 - bestehend aus Michael Braun, Irene Ferchl, Walle Sayer, Hans Thill und Wolfgang Tischer - begründet ihre Entscheidung für Markus Manfred Jung wie folgt:
„Markus Manfred Jung bringt die Mundart, in der er lebt, das Alemannische, in einer zeitgemäßen Art und Weise zum Klingen, zum Leuchten. Er arbeitet in seinen Gedichten mit dem Musikalischen und dem Lautmalerischen des Dialekts und erschließt mit seiner Gegenwärtigkeit Themen jenseits aller Tümelei °.
Walle Sayer, der die Laudatio für Markus Manfred Jung hielt ,sagt zu dem alemannischen Dichter:
„In seiner Lyrik geht es ihm, laut einer Selbstaussage, vor allem darum, das eigene und eigen-artige Sprachinstrument Mund-Art in einer zeitgemäßen Weise zum Klingen zu bringen.
Dialekt und Mundart: bei Jacob Grimm (Geschichte der deutschen Sprache, 2 Bände, 1848) sind die
Dialekte die Äste eines Sprachbaumes, die Mundarten die Zweige an den Ästen.
Inzwischen sind Dialekte etwas, das von Instituten erforscht wird. Mundarten sind sich wandelnde, gesprochene Alltagssprachen, die ihre verbliebenen Refugien haben. Und irgendwo im Hinterkopf schwirrt noch das geflügelte Wort vom Dialekt als Goldreserve der Hochsprache.
Die Mundart sei die Sprache mit der größten Notwendigkeit, konstatierte Martin Walser einmal. Und meinte damit vielleicht, daß es Dinge, Sachverhalte gibt, die sich, so wie sie sind, nur in Mundart ausdrücken lassen. Die Mundart ist also nicht nur eine andere Art zu sprechen, sondern sie ist eine andere Art von Denken, Sehen, Empfinden und Fühlen, hat ihre eigene Modulation von Wirklichkeit, eine andere Gedächtnisfrequenz.
Die Themen seiner Gedichte, ihre Ausdrucksfülle, reichen vom Basler Totentanz, den Lebensfäden von Emma/Sara/Isaac (Namen jüdisch-alemannischer Deportierter auf Stolpersteinen), bis zum Leben als Kartenspiel/Charteschpil. Sie sind als Reminiszenz z.B. Erika Burkart gewidmet oder Johannes Kühn. Markus Manfred Jung arbeitet mit Schatten, Oberlicht und Maulwurfsdunkel, durchschreitet Spätsommertage, schreibt Nebelelegien, sieht dem Wolkentreiber Wind nach, zeichnet mit Worten der Haare Wellenwirrnis/Wellewurlete auf den Kissensand, gewahrt Schrumpelbirnen und schwarzgedörrte Äpfel, reimt Gottesacker auf Sondermülldeponie und fragt im Freiburger Münster ins Mittelschiff hinauf: wie chan e weidbueche wüsse/ dass sie pfiiler wird/ wo de himmel/ trait: wie kann eine Weidbuche wissen/ dass sie Pfeiler wird/ der den Himmel/ trägt ....
Der Gerlinger Lyrikpreis ist nicht die erste Auszeichnung seiner Arbeit. Hervorzuheben sind außer unzähligen Mundartpreisen die Würdigungen über diesen Rahmen hinaus. Für „Ikarus“ eine Vertonung von 22 seiner Gedichte durch den Liedermacher Uli Führe, gab es 2007 den „Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik in der Kategorie „Grenzgänge der Musik“; 2001 den Lucian- Blaga-Poesie Preis in Klausenburg, Rumänien für seine von Mircea Vaida-Voevod ins Rumänische übersetzten Gedichte; und 1998 erhielt der den Förderpreis beim renommierten Lyrikpreis Meran.
Bei diesem Lyrikpreis, bei dem wir ( Markus Manfred Jung + Walle Sayer ) uns kennenlernten, las er unter anderem das Gedicht „zämme läse“, wo das Lesen, das Auflesen und das Zusammenlesen untrennbar miteinander verwoben werden:
zämme läse
zämme läse
d scherbe
splitter spiegel sprooch verbrocheni verschtückleti welt
zämme läse
stückle
s git nie öbbis ganzis nie zämme läse
richte
s git öbbe öbbis
neus
zämme
zämme läse
Unter diesem Dialektgedicht stand eine Übersetzung, eine Übersetzungshilfe.
Zusammen lesen// zusammen lesen/ die scherben/ splitter spiegel sprache/ zerbrochene/ zerstückelte welt// zusammen lesen/ flicken/ es gibt nie etwas ganzes nie/ zusammen lesen/ richten (darüber richten; bereiten; gerade rücken)/ es gibt etwa etwas/ neues/ zusammen// zusammen/ gelesen
Damit, durch diese Übersetzungshilfe, so scheint mir, soll die besondere Art von Hermetik, die der Mundart eigen ist, aufgelöst, soll diese Sprache entgrenzt werden. Doch auch für Mundartgedichte gilt die Maxime, daß Gedichte eigentlich nicht übersetzbar sind, besteht das alte Übersetzungsdilemma: hält man sich mehr an den Inhalt oder an den Klang, die volle Intonation, an den Rhythmus, die Sprachmelodie:
s git nie öbbis ganzis nie / es gibt nie etwas ganzes nie s git öbbe öbbis neus / es gibt etwa etwas neues
Die hochdeutsche Übersetzung seiner Gedichte ist also eine mögliche Lesart, die er uns anbietet, vielleicht könnte man auch sagen: eine kunstvolle Interlinearversion, mit der wir, die Leser, die Möglichkeit haben, uns diese Zeilen selbst zu übersetzen, sie nachzudichten.
Zwei Stimmen zu diesem Gedicht will ich ihnen nicht vorenthalten.
Kurt Drawert sagte dazu: Ich bin besonders vorn Vortrag dieser Gedichte beeindruckt. Erst im Vorlesen haben sie mir ihre Intentionalität erschlossen, habe ich die ganz Spielbreite dieser Gedichte erfasst. Durch die Lesung wurde ich völlig überzeugt. Das war hinreißend, wunderbar. Was für ein Rhythmus, was für eine Sprache!
Und Klaus Merz ergänzte: Was ich an diesen Texten besonders schätze: Dass vom ersten Gedicht an ein Ton angeschlagen wird, der durchhält, auch durch die anderen Gedichte hindurch bis zum letzten Gedicht, bis „zämme läse“, wo das dichterische Credo des Autors nachlesbar wird. „
Carolin Callies
Callies, Carolin, geboren 1980 in Mannheim, lebt in Ladenburg. Nach einer Ausbildung zur Verlagsbuchhändlerin im Suhrkamp Verlag und dem Studium der Germanistik und Medienwissenschaften in Mannheim war sie lange im Literaturbetrieb tätig. Heute ist sie Autorin und selbständige Literaturvermittlerin. Zuletzt erschienen ihre beiden Gedichtbände "fünf sinne & nur ein besteckkasten" (2015) sowie "schatullen & bredouillen" (2019) im Verlag Schöffling & Co. Preise und Auszeichnungen: Thaddäus-Troll-Preis 2015, Jahresstipendium für Literatur des Landes Baden-Württemberg 2015, Nominierung für den Clemens-Brentano Preis 2020, Gerlinger Lyrikpreis 2020. Als Literaturvermittlerin organisiert sie die jährlich stattfindenden Ladenburger Literaturtage "vielerorts", die Bühne "Die Unabhängigen" für die Kurt Wolff Stiftung auf der Buchmesse Leipzig und sie moderiert den Podcast "Flausen" für das Literaturhaus Stuttgart. Sie ist Mitherausgeberin des "Jahrbuch der Lyrik" 2021.
Ab Mai 2020 lädt die Lyrikerin Carolin Callies einmal pro Monat Schriftsteller*innen und Dichter*innen zu sich aufs digitale Sofa und ins persönliche Gespräch. Anlass kann ein neues Buch sein, muss es aber nicht. Eines jedoch zeichnet sich kristallinklar ab: Im eng geschnürten Zeitkorsett des Lebens kommt den Flausen im Kopf, den absonderlichen Ideen und undurchführbaren Plänen etwas Befreiendes und Widerständiges zu. Sprechen wir über das Schreiben, die Literatur – und die Schönheit der Flausen.
„Die Gedichte von Carolin Callies unternehmen etwas ungeheuer Riskantes. Sie verlassen den bis in die Gegenwart festgefügten Kanon lyrischer Sujets – Natur, Liebe, diverse Reiseimpressionen ---und machen den Körper zum Thema. Und nicht nur den Körper, sondern auch die höchst ambivalenten Gefühle dem Körper gegnüber, dem eigenen wie dem fremdem.“ ( Richard Kämmerlings).
irrlichter sein
freitags lassen wir blätter die bleich runtertreiben & freitags hab ich die kälte im schoss, im verzug & das glatte, das gitter, fünf scheunen, ein gatter, kein stroh.
bunsentiere haben wir dort aufgefußt & eine bauchnatter & ginster beschädigt, sogar einer eule die ohren genäht. so war es stets: der mond uns ein trunk & die nelke aus trockenheit warm
& doch bin deiner nie farbe geworden,
deiner zeilenförmige irrnatur, umwickelt von cellophan. meine zunge kommt da nicht dran, so wortfeil & warst immer schon die beliebige öffnung am rand der verpackung,
liebkost beim verschließen. ein seltsames muster ergibt mir das & die sandbeeren, schmierblumen an der bleich. alles hell hier & dein haar & dein garn lichtert & irrt auch.
freitags will ich dich an den brauen packen oder ei1! n ründchen schmücken, will dich am ufer flach auslegen & oxidieren lasse & doch vermag es doch kaum: ich seh den nutzen nicht
& dein haar & dein garn hunze ich zu fadenbrei, siebe es in der bleich aus & was ich im picknickkorb hab: deinen schmutz & deinen schwefel, eine menge chemisches & sahniges im flaschenhals
& dazu das buch über die künste der knochenbauweise, darin deine bleichen knochen auch & was hab ich aus meinem mund nicht mehr deinen mund hervorgebracht, einer zunft zugehörig
& in der regenkabine lag freitags eine spritze & eine spitze schere, lag sie offen wo für eine probebohrung deines kopfes, du aufgespannt und feucht gehalten dein schoß.
Der Laudator 2022 Michael Braun charakterisiert die Gedichte von Carolin Callies folgendermaßen :
„Und das gehört zu den ästhetischen Schockstrategien von Carolin Callies: Geschichten des Körpers, der Verletzung und Versehrung, Geschichten der Liebe und des Liebesverlusts in
einen romantischen Märchenton zu kleiden und sie gleichsam zu tarnen durch niedliche Verkleinerungsformen aus den Geschichtenschatz der Brüder Grimm. Immer wenn diese Gedichte mit den Mitteln des Kinderreims oder der frommen Litanei daherkommen, muss man sich auf frivole Regelverstöße und Thematisierung drastischer Körperlichkeit gefasst machen. Wie das tapfere Schneiderlein näht auch die Dichterin Carolin Callies ihre Geschichten von Eros und Begehren gleichsam „aus Leibeskräften“.
Als magische Objekte tauchen in ihren Gedichten – wie in den Märchen der Grimms und wie übrigens auch in den neuen Büchern von Friederike Mayröcker – winzige Scheren, Nadeln und Fäden auf, die als poetische Erkenntnisinstrumente fungieren.
Nun hat Carolin Callies einen Gedichtzyklus mit dem Titel „Wunschkonzert“ vorgelegt, und auch dort entdecken wir die für sie so typischen Motive: das „Feilen“ der Wörter wie auch das „Feilen“ der Knochen, das Schneiden und Nähen in den Textleib, das Einnähen und Bergen von Gegenständen in Schatullen, Schalen, Kabinen und anderen Behältnissen.
Die musikalische Begleitung dieser schönen Veranstaltung wurde wieder von zwei erstklassigen Musikern gestaltet:
Der Profi-Musiker, Saxofon-Solist und Pianist Yury Fedorov und die professionelle Sängerin Vlady Vitaly begeisterten mit einer ganzen Reihe von Musikbeiträgen, für die sie viel Beifall erhielten.
Bekannte Titel der Jazz-Klassiker aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wie z.B. "All of me, Almost like being in love, Misty, Round Midnight" erfreuten das Publikum ebenso wie Latin-Rhythmen und -Melodien wie "Blue Bossa" oder "Wave".
Mit "Summertime" und "Autumn Leaves" durfte an die verflossene und an die angebrochene Jahreszeit gedacht werden.
Und zum musikalischen Ausklang der schönen und diesmal doppelten Preisverleihung durfte sich das Publikum sogar seine Favoriten unter den Musikstücken erneut vortragen lassen.