Mit Markus Manfred Jung durch die Schweiz: Vom Aufbrechen und Ankommen
Mit Markus Manfred Jung durch die Schweiz:
«Nebelgischt» - mehr als ein Reisetagebuch
Im Sommer 1805 unternahm Johann Peter Hebel eine einmonatige Reise durch die Schweiz. 213 Jahre später, im Sommer 2018, trat Markus Manfred Jung in die Fussstapfen seines grossen dichterischen Vorbilds, vielleicht inspiriert durch die Ausstellung über Hebels Schweizerreise, die kurz vorher im Lörracher Dreiländermuseum eröffnet worden war. Allerdigs wahrt Jung zu Hebels Tagebuch und den Reiseberichten anderer Dichtergrössen des 18. und 19. Jahrhunderts eine gewisse Distanz: «Darüber zu lesen, hat mir allerdings wenig Antrieb gegeben. Zu weit ist diese Welt vergangen, zu zielgerichtet mir ihr akademisches Wollen». Wenn man aber Jungs in seinem Wiesentäler Alemannisch verfasstes Reisetagebuch liest, hat man eher den Eindruck, er wollte in die Zeit vor Hebel zurückkehren, denn im Gegensatz zu diesem, der mit zwei ihm von deren Vater anvertrauten 15- und 16-jährigen adeligen Sprösslingen und einem «Lohndiener» in einer Postkutsche reiste und nur eine mehrstündige Wanderung auf die Grosse Scheidegg unternahm, durchquerte Jung die Schweiz allein und zu Fuss, mit Ausnahme zweier kurzer Busfahrten, die er mit der Begründung «künschtlerische Freiheit» rechtfertigte, und nur mit dem allernotwendigsten Gepäck im Rucksack. Und während Hebel und seine Begleiter eine Rundeise von Schaffhausen über Zürich und Luzern ins Berner Oberland und über Bern, Biel und Delsberg nach Basel unternahmen, setzte sich sein alemannischer Dichterkollege von heute das Ziel, die Schweiz auf der Nord-Süd-«Direttissima» zu durchqueren, vom Rhein bis zum Lago di Mergozzo im italienischen Piemont, gleich jenseits der Grenze von Saas-Fee.
Hebel, seinerzeit 45, benötigte für seine Reise einen Monat; Jung, damals beinahe 64, schaffte die seinige in drei Wochen, insgesamt 450 Kilometer mit Tagesetappen von bis zu 30 Kilometern, und dies im Hitzesommer 2018, an den meisten Tagen mit Temperaturen bis zu 35 Grad, bei welchen nur gelegentiche Gewitterregen und regelmässiges Schwimmen in einem Fluss, See oder einem eisigen Bergbach Abkühlung boten - eine beachtliche Leistung, selbst für einen ehemaligen Leistungssportler!
Jungs Absicht bestand also nicht darin, Hebel nachzuahmen, genau so wenig wie in seinem schriftstellerischen Werk, in welchem er bei aller Bewunderung für den alemannischen Dichterfürsten seinen eigenen Weg fand. Seine Motivation, diese Reise unter die Füsse zu nehmen, war eine andere: Nach 35 Jahren Schuldienst am Gymnasium Schopfheim frisch pensioniert, wollte er den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt durch eine klare Zäsur markieren, um Abstand zu gewinnen und den Kopf für neue Gedanken frei zu machen. Dieser Wunsch erklärt denn auch den Untertitel des Buches: «Vom Aufbrechen und Ankommen»: Abschied vom bisherigen und Ankunft im neuen Leben.
Seine Wanderung führte den Autor von seinem Wohnsitz im Kleinen Wiesental am Fuss des Badischen Belchen mehr oder weniger entlang der kürzesten Seite des Belchen-Dreiecks über Rheinfelden zum schweizerischen Bölchen und durch das Mittelland ins Emmental, wo er in Lützelfülh das Grab von Jeremias Gotthelf besuchte. Weiter gings nach Thun, wo er bei Freunden übernachtete – übrigens der einzige Ort, wo sich sein Weg mit demjenigen von Hebel kreuzte – und weiter bergwärts über Adelboden nach Kandesteg, von wo er den steilen Aufstieg über einen fast 2000 Meter hohen Pass nach Leukerbad im Wallis in Angriff nahm, und dies bei einem abrupten Wetterwechsel. Auf diesem beschwerlichen Weg hatte er das Erlebnis, das seinem Buch den Titel gab:
Gang s wohl Schwirigscht a, bis jetzt vo 830 un jetz soll s uf 1943 m goh. Zerscht licht, bis dört, wo de Autozug im Berg verschwindet. Däno saugäächis Zickzackwegli. Un s’schifft. S wird chalt. Nebelgischt. Tapp schwer begosse unverdrossse.»
Wohl unbewusst klingt hier ein Echo aus Hebels Beschreibung seiner Wanderung über die Grosse Scheidegg mit: «Diss ist die beschwerlichste und interessanteste Tagreise.» Für beide Dichter war das Berner Oberland der Höhepunkt ihrer Reise, nicht nur geographisch, sondern auch emotional. Jung war vom Nebel so beeindruckt, dass er ihm ein eigenes Gedicht widmete:
«dä nebel de wenn er eso wenn er so wabret wäbret gar wenn er schnell isch so schnell isch s loch uf wenn er so/do weisch du ufsmool nümmi goht er gohsch du goht er s loch uf berguf gohsch du d matten ab bachab/ an s gueti glaube n einewäg nebel wenn s richtg iisig isch no riift er zum riife dä nebel verzuckret verglitzret versilbret er d welt an s gueti glaube sell hebt/se trau di unterwegs bisch am ziil und ohni ass es merksch/ allewiil/allewiil
Bald aber lichtete sich der Nebel und gab den Blick ins Wallis frei, das Jung bereits eine Vorahnung auf Italien bot, welches er über den 2800 m hohen Monte Moro-Pass erreichte. Seine Wanderung endete in Mergozzo, wo er ein Dutzend Jahre zuvor auf dem Zeltplatz die ersten Ferien mit seiner heutigen Frau, der Kunstmalerin Bettina Bohn, verbracht hatte. Ihre knappen, aber symbolträchtigen Ilustrationen begleiten seine Reise, die sie mit ihrem künstlerischen Talent auf ihre Weise nachvollzog. Die Rückreise nach Norden unternahm der Autor nach allen Anstengungen der Wanderung im Zug.
Auf seinem Weg durch die Schweiz hatte Jung nach seinem Motto «Mer muess schwätze mit de Lüt» zahlreiche spontane Begegnungen mit Schweizeriinnen und Schweizern, oft bei der Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten, die er bewusst nie zum Voraus eingeplant hatte. Dabei stiess er mit wenigen Ausnahmen auf eine herzliche Gastfreundschaft; die Beherbergungen waren je nach Komfort manchmal gratis oder zu moderaten, öfters aber auch zu hohen, eben schweizer Preisen. In einem Falle hätte die Gastfreundschaft fast etwas zu weit gehen können:
«Uf Grüenmatt. E nette Flirt mit der Wirti dört. Guete Tag. Si hän nit zuefällig au no e Bett z vergä? W: I ha e Bett, mi Bett. Ii: Jo wenn’s breit gnueg isch. Si lacht, umarmt mi: Jesinei, des wäri aschdengend. Ii: Jo so kaputt bin i au wieder nit. Si lacht un lacht. Hä nei, wüsse Si, s’isch wege de Lüt, wege de Lüt.»
Als Sprachenkenner beabachtete Jung auch mit Interesse, wie sich die schweizerischen Varationen des Alemannischen nach und nach von denjenigen am Rhein entfernten, je weiter er nach Süden wanderte:
«Am Afang Baselland – die schwätze jo wien ich – Aargau, Solothurn, Luzern, Bern – i hör chuum de Unterschid im Grenzgebiet, aber z St. Urban uf em Burehof won i zum erschte Mool uf son e richtigs Bärndütsch triff. E tollis Gsprööch, au wenn i numme e Dreiviertel begriffe ha, aber mer hän is verstande. Im Wallis däno Oioioi, die vile u-Lut. Si hän sich jo Müeihj mit mer gä, well si denkt hän, i wär von Schaffhuse oder Basel. Aber vom Stammtischgspchrööch han i, au wenn i d Ohre geschpitzt ha, högschtens d Hälflti verschtande. Aber die Musik. Des seltni alemannischi Inschtrument, vo Meischter gschpilt!»
Man kann auch als «Üsserschwizer» Jungs Mühe mit dem «Walliserditsch» verstehen, wenn das Fernsehen SRF die im Wallis splielende Krimi-Komödie «Tschugger» auf Hochdeutsch untertitelt…
Markus Manfred Jung ist auch ein grosser Kenner der Natur und daher nicht nur von der Vielfalt der Sprachen, sondern auch von derjenigen von Flora und Fauna begeistert. Er erkennt und benennt auf Anhieb viele Blumen und Pilze, sodass sein Buch fast wie ein kleines Nachschagewerk besonders für die alpine Planzenwelt wirkt.
«Nebelgischt» ist aber viel mehr als ein Reisebericht, denn zwischen die einzelnen Etappen hat der Autor mehr als ein Dutzend kurze Kapitel eingeschoben, die im Gegensatz zum Tagebuch nicht auf Alemannisch, sondern auf Hochdeutsch abgefasst sind, um sie von den meist heiteren Wander-Erzählungen abzuheben. Sie stimmen einen ernsteren Ton an, denn sie drehen sich um Gedanken, Erinnerungen, Träume und Albträume, die ihm unterwegs und in unruhigen Nächten ein- bzw. beflielen und die er jeweils am Abend in seinem Notizheft zu Papier brachte. Die Kapitelüberschriften geben deren ganze Spannweite wider: Zwischen den dem Buch als Untertitel dienenden Begriffen Aufbruch und Ankommen stehen: Wagnis, Wasser, Verirrung, Süden, Atmen, Wehmut, Untergrund, Gerüche, Das Böse, Pflichtgefühl, Das Sensationelle, Notdurft, die Glosse «eigentlich», Magische Namen, Symbol und Aberglaube, das Gute. Markus Manfred Jung gibt in diesen Kapitel tiefe und zum Teil sehr private Einblicke in seine Jugend in einem streng katholischen Umfeld, in der er von Lehrern und Geistlichen geschlagen wrde, aber auch von seinem Vater, dem Dichter Gerhard Jung, der ihm jedoch in einer schweren Lebenskrise beistand und dem er noch heute, fast ein Vierteljahrhundert nach dessen Tod, in Dankbarkeit, Bewunderung und Liebe verbunden ist. Wir erfahren, dass Markus in seinen jungen Jahren durchaus ein Rebell war, dass er den Dienst in der Bundeswehr verweigerte und dass er aus Liebeskummer sein Studium in Freiburg i.B. abbrach, um es im fernen Oslo fortzusetzen. Eine Erinnerung an seine Zeit in Norwegen kam ihm beim nebligen und nassen Aufstieg bei Kandergrund in den Sinn: Er hatte vorgehabt, bei ähnlichen Bedingungen einen Berg zu besteigen, sah dann aber aus Rücksicht auf seine Familie im letzten Moment davon ab. Wenig später erfuhr er, dass zwei Bergsteiger auf dem Weg, den er einschlagen wollte, zu Tode gestürzt waren. Solche und ähnliche Erinnernungen kamen in ihm während der Wanderung mehr als einmal hoch, bis hin zu den Gewaltphantasien, die ihn der Pubertät bisweilen heimsuchten, die er aber rechtzeitig verdrängen konnte. Er löst mit diesen und manchen weiteren Einblicken in seine Vergangenheit ein, was er sich am Beginn seiner Wanderung vorgenommen hatte: «Aufbrechen. Wie eine Nuss knacken. Die Schale zersplittern, um die Nuss aufzuschliessen, freizulegen, um an den Kern zu kommen.» Oder wie er unterwegs notiert: «I will zerscht emool mir begegne…»
Mehr sei hier nicht verraten, aber wer Markus Manfred Jungs Schweizerreise miterleben und ihn, besonders auch durch die erwähnten Zwischenkapitel, besser kennen lernen möchte, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Eigentlich sind es ja zwei Bücher in zwei Sprachen, was die Lektüre doppelt lohnt, auch weil sich Alemannisch und Hochdeutsch ständig abwechseln, sich gegenseitig ergänzen und und fliessend ineinanderlaufen.
Das Schlusskapitel «Ankommen» fasst das Buch trefflich zusammen:
«Ankommen. Daheim: Dieses tief eingesunkene, schon fast verwurzelte Gefühl: Ab jetzt ist das Leben Zugabe. Unverdient, geschenkt. Diese pflichtlose Raum-Zeit Konstellation vor mir, unterworfen nur noch meiner persönlichen Verantwortung und dem Schicksal. Ich habe alles bekommen, was man sich wünschen kann. Selbstvertrauen, ich kann dem Selbst vertrauen, nachdem ich mich kennen gelernt habe, in Schwäche, in Stärke. Ich habe von Menschen Respekt erhalten, Zuneigung erfahren, Liebe gespürt. Und ich habe alles gesehen; Blumen, Bäume, Tiere, Bäche, Flüsse, Seen, Felsen, Schluchten, Berge. Nichts Bestimmtes, obwohl manches schon herausragend daraus, aber alles zusammen und ich davon ein Teil. Nicht leben in der Natur, sondern Leben als Natur. Teil des Ganzen, Teil von etwas unerklärlich Sinnvollem. Daheim in Liebe und Geborgenheit. Glück. Und was bleibt und bleiben wird: diese tiefe und diese hohe Dankbarkeit ans Leben.»
Hans-Jörg Renk